

Gerade befand sich Kunigunde weit weg von der heimatlichen Burg in einem dunklen Wald und gelangte zu einer Höhle. In der linken Hand trug sie eine Fackel und das Licht zappelte unruhig auf den nassen Steinwänden. Kunigunde hopste mit dem Flackern um die Wette bis tief in die düstere Höhle hinein. Wer hier wohl wohnte?
Ein Stück vor ihr auf dem Boden lagen dicke, stählerne Ketten. Kunigunde stupste eine davon mit dem Fuß an und die Glieder rasselten laut über den Steinboden. Während sie sich noch wunderte, wie eine so kleine Bewegung ein so großes Geräusch machen konnte, flog sie bereits durch die Luft nach oben.
„Aua!“ Ihre Stimme klang hallend und befremdlich in der Höhle.
Sie ließ die Fackel fallen und sie erlosch. Angst hatte Kunigunde keine, aber die kalten Ketten wanden sich schmerzhaft um ihren Körper und pressten sich tief in ihre Haut.
„Hallo? Ist da wer?“
Sie konnte nichts mehr erkennen. Plötzlich aber stach eine riesige Flamme aus der Dunkelheit.
„Ah, Licht. Wer ist denn da? Und was soll das mit den Ketten?“
„Hier stelle ich die Fragen!“, dröhnte es.
„Na gut. Wo bist du denn?“
Ein riesiger Schatten eines Drachens erschien an der Wand.
„Hast du mich nicht verstanden? Ich fresse dich auf, wenn du nicht machst, was ich sage.“
„Ja, ja. Schon gut.“
Kunigunde musste sich zurückhalten. War es wirklich ein Drache? Bisher hatte sie noch keinen anderen, außer Elvira gesehen, und noch nie von einem solch Großen gehört.
Der Drache riss sein Maul auf.
„Du wagst es, in mein Reich vorzudringen? Was willst du hier?“
„Ich suche ein Ei. Das Drachenei einer Freundin. Sie heißt Elvira.“


„Das Ei ist mein!“ Ein scheußliches Lachen durchfuhr jeden Winkel der Höhle. „Das Ei ist der Schlüssel zu meiner Herrschaft über alle Königreiche. Ich werde sie niederbrennen und die Drachen werden aufleben, aus ihren Höhlen und Verstecken kriechen und das Land wieder besiedeln. Und alle werden sie mir dienen. Dann werdet ihr kleinen Tunichtgute nur noch Geschichte und diese bald vergessen sein.“
„Ähm … naja … also … falls wir von dem gleichen Ei reden, dann ist es nicht deins. Und soweit ich weiß, verstecken sich die Drachen doch gar nicht. Was meinst du denn damit?“
„Du wagst es, mir zu widersprechen? Mir, Evan, dem Schrecklichen? Das sollst du büßen!“
Der Drachenschatten erhob sich. Ein scharfer Wind streifte Kunigundes Haar und spitze Schuppen schnitten Kratzer in ihren Arm. Der Schwanz des Drachens, so groß wie der Kirchturm im Dorf, peitschte knapp neben ihr zu Boden. Ein Brüllen ertönte und Kunigunde blickte in glühend rote, wütende Augen.
„Ah, da bist du ja. Kannst du mich mal los machen? Was hast du eigentlich gegen uns Menschen?“
Aber sie sollte die Antwort nicht erfahren. Stattdessen bebte nun die ganze Höhle. Ein lautes Ächzen ließ ihre Knochen zucken, die Ketten ruckelten und zogen sich noch enger zusammen. Etwas traf Kunigunde am Kopf und sie – verlor das Bewusstsein.
Zuhause im Königreich Gifhorn saß der vergessliche Ritter Kunibert derweil am Tisch und frühstückte. Am Tag zuvor hatte er einen Auftrag aus dem Königshaus ergattert. Oder besser gesagt, er wurde ihm zugespielt. Noch besser gesagt, untergejubelt. Denn kein anderer Ritter wollte den Auftrag übernehmen. Kunibert überlegte gerade, was es noch gleich gewesen war. Da klopfte es an der Tür.
Draußen stand ein Wächter des Königs und wedelte mit einem Pamphlet.
Kunibert begrüßte ihn. „Einen schönen guten Morgen!“
„Ach was, schön. Sieh lieber zu, dass du loskommst! Hier, das soll ich dir bringen, damit du es nicht wieder vermasselst.“ Der Wächter drückte Kunibert das Pamphlet in die Hand. „Steht alles drin, zum Nachlesen.“
Und ohne ein weiteres Wort war er wieder verschwunden.
Kunibert zuckte mit den Schultern, schloss die Tür und entfaltete das Papier. Darin las er, dass Evan, der Schreckliche, das Goldene Gifhorn geraubt hätte, wo der Drache zu finden sei, und dass er ihn besiegen und das Goldene Gifhorn zurückbringen solle.
„Ah ja, das war es.“ Kunibert strich sich über die Schläfe. Voller Tatendrang packte er die kleine lederne Tasche, holte sein Pferd aus dem Stall und galoppierte über eine weite Wiese und in den Wald hinein.
Dann überschlugen sich die Ereignisse.

Kunigunde wachte gerade auf, als sie schon wieder durch die Luft flog – noch immer in Ketten. Sie hörte den vertrauten Schlag von Elviras Flügeln, konnte aber nichts erkennen, bis Flammen die Höhle erleuchteten.

Draußen hörte Kunibert den Tumult aus der Höhle dringen und machte sich auf die Suche nach der Ursache. Er hatte schon wieder vergessen, warum er eigentlich hier war, aber er war zu neugierig, als dass er hätte einfach weiterreiten können.
Evan fauchte wild und wollte soeben mit Elviras Ei aus der Höhle fliegen.
In heller Verzweiflung warf die Drachenmutter den Stein nach ihm. Und just in diesem Moment wurde Evan kurz durch den Klang einer menschlichen Stimme abgelenkt.
„Hallo? Was ist denn hier los?“, fragte Kunibert.
Evan sah den Stein somit erst im letzten Moment, ließ das Drachenei los und fing den Stein mit den nun freien Klauen kurz vor seiner Nase ab.
Elvira stürzte hinab, pflückte das fallende Ei aus der Luft, schnappte sich Kunigundes Ketten mit den Zähnen und warf sich Kunibert auf den Rücken.
Sie drehte sich noch einmal um und schien verwundert, dass Evan ihr nicht folgte.
Kunigunde erblickte Evan, wie er einen funkelnden, spitzen Gegenstand mit voller Wucht in den Stein hineinschlug, den Elvira nach ihm geworfen hatte. “Das Goldene Gifhorn!”, rief Kunibert.
Und es verschwand tief im Felsen.
Evans schreckliches Lachen erfüllte die Höhle. „Ihr seid dem Untergang geweiht! Das Ei und das goldene Ding machen mich zum mächtigsten Wesen der Welt.“
Er erhob seine Pranken zur Siegerpose, wartete einen Moment und schaute sich dann verdutzt um. „Wieso passiert denn nichts?“
Kaum hatte er seine Frage beendet, da schrumpfte er um die Hälfte, und noch mal und noch mal.
„Das war doch der Stein und nicht das Ei”, rief Kunigunde und lachte. “Aber jetzt siehst du viel niedlicher aus.“


Elvira schnappte sich auch den Steinbrocken.
Dann machten sie sich zum Königreich Gifhorn auf und ließen einen fluchenden Evan zurück. Wobei es mehr wie ein Japsen als ein Fluchen klang.
Die Bewohner Gifhorns staunten nicht schlecht. Kunibert kam mit Kunigunde auf einem Drachen reitend zurück! Und Kunigunde bestätigte sogar seine verrückte Geschichte:
Evan, der Schreckliche sei besiegt, ein Stein wurde gefunden und das Goldene Gifhorn solle darin verborgen liegen.
Dem König aber gefiel der Stein so gut, dass er es nicht übers Herz brachte, ihn zu zerstören, um das Goldene Gifhorn herauszuholen. Und noch heute munkelt man, es handele sich um den Findling, der viele Jahrhunderte später aus der Erde geholt wurde. In der stillsten Nacht jeden Jahres, wenn der Mond voll scheint und die Sterne tanzen, dann kann man wohl noch immer das Goldene Gifhorn durch den schönen Stein schimmern sehen.