Stundenlang sind wir schon in diesem klappernden Bus gefangen. Ein Hauch von Stinkfuß umschwirrt mich und das orangerote Muster der Sitze hat sich schon bis tief hinter meine Stirn eingebrannt, mein Blick kann ihm nicht entkommen. Vor dem Fenster und dem Draußen sitzt Cindy, mit Musik auf den Ohren, tief ins Gesicht gezogener Kapuze und angewinkelten Beinen. Und vor meinem Drinnen steht breitbeinig das Bedürfnis, mich zu übergeben, sobald ich die Augen schließe. Ich presse die Knie gegen die Lehne vor mir, die Stirn gegen den rauen Jeansstoff und suche eine Botschaft im Muster der Krümel auf dem Boden. So gekrümmt sind meine Bauchschmerzen fast erträglich. Doch bei jedem Holpern des Busses hüpft der Schmerz von innen gegen die Bauchwand, zerrt an Darmschlingen und scheint sie auseinanderreißen zu wollen.
„Hi“, sagt da jemand.
Ich ignoriere es. Zu anstrengend. Sicher nicht meine Sprache. Wahrscheinlich bin ich sowieso nicht gemeint. Und reden will ich schon gar nicht.
„Hello? Are you going to San Pedro?“
Wohin denn sonst?
„Sei höflich“, erklingt Mamas Stimme in meinen Gedanken und ich bin erbost, da sie wohl eher um mein Wohlbefinden, statt um Anstand besorgt sein sollte.
Ich hebe und drehe den Kopf ein Stück und der Typ auf der anderen Seite des Ganges schaut mich aus braunen, mit seinem Mund um die Wette lächelnden Augen, an. Ich nicke.
„Cool. Ich auch. Wo kommt ihr her?“
Diese Frage! Immer diese Frage!
„La Serena.“
„Nein, ich meine …“
„Weiß ich doch. Aus Deutschland und du?“
„Spanien. Und was macht ihr so?“
Tief einatmen.
„Ich schreibe“, sagt er.
Ich richte mich gerade so weit auf, dass der Schmerz im Bauch nicht explodiert.
„Vor allem Gedichte. Aktuell aber mehr an meiner Arbeit. In San Pedro werde ich dafür die Schule besuchen und mit den Kindern über Poesie erzählen.“
Eine Frage purzelt aus meinem Mund. Und die Worte unseres nun folgenden Gesprächs legen sich wie ein lindernder Kokon um mein Bauchweh. Wir unterhalten uns die ganze restliche Busfahrt lang und wieder am nächsten Tag. Endlich werde ich all diese Fragen los, bei denen ich meist nur schräge Blicke ernte, manchmal finden wir sogar eine Antwort. Und im Kokon hat sich der Schmerz längst in ein Vibrieren verwandelt.
„Kommt doch mit“, sagt Miguel.
In die Schule? Ja. In die Schule! Was ich dort fühlen, hören und sehen werde, wird das Vibrieren in einen kräftigen Flügelschlag verwandeln. Im Kokon wird ein Riss entstehen. Das Flattern wird sich daraus befreien. Es wird sich im Herz verfangen und manchmal so viel Wind machen, dass ich Gänsehaut bekomme.
San Pedro de Atacama
Zwei mal zwei Schulstunden
Wie in der Wüste ringsum den Ort dominieren auch hier auf dem Schulhof orangerote Farbtöne. Auffrischende Farbtupfer wie das Blau der Schuluniformen oder das der Pfosten der schattenspendenden Dächer scheinen eine visuell kühlende Wirkung zu haben. Die Türen zu den Klassenzimmern stehen offen, nebeneinander warten sie auf die nächste Stunde in der einstöckigen Schule. Lachen, Hüpfen und Geplapper umschwirren uns. Und unter den Dächern wird es eng, während der sonnenüberflutete Teil des Hofes öde wie die Wüste wirkt.
„Holá“, begrüßt uns ein zart wirkender junger Mann in einem ausgeblichenen Anzug und nimmt uns in eins der Zimmer mit.
An mintgrünen Wänden hängen ein Kalender, bunte Schilder mit farbigen Worten, ein selbstgemachtes Plakat mit Zeitungsausschnitten und Bilder und Fotos auf bunten Unterlagen. Metallgestelltische mit dünnen Holzplatten stehen eng beieinander und vorn füllt eine nicht aufklappbare Tafel die ganze Breite der Wand. Hinten an einer Steinwand hängen zwei Papiergirlanden, die Vorhänge an den Fenstern sind zugezogen.
Die Kinder der siebenten Klasse stürmen herein und ein Bürschchen begrüßt uns mit einem Pfiff. Wir nehmen an einem Tisch rechts hinten Platz und ich komme mir beobachtet vor.
Noch ehe alle sitzen, nicht ahnend, was sie in den nächsten Stunden erwartet, ruft ein Junge: „No Lecciones! “
Rings um ihn herum erklingt zustimmendes Gebrummel. Beim Lehrer scheint das keine Reaktion hervorzurufen, er setzt sich neben einen Schüler und überlässt Miguel den Lehrertisch.
„Buenos días“, ruft Miguel.
Fast alle der vielleicht 30 Kinder antworten mit den gleichen Worten im Chor.
Miguel erzählt ein wenig über sich und warum er hier ist und stellt ein paar Fragen, die von den meisten wiederum gemeinsam mit „Si“ oder „No“ beantwortet werden.
„¿Qué es para usted la poesía?“, fragt er und fordert die Kinder auf, die Zettel hierzu herauszuholen.
„No“, antworten einige, die meisten sind still und von hinten links kommt lautstarker Protest.
Miguel hatte gehofft, sie hätten die Frage gemeinsam mit dem Lehrer schon besprochen, doch sie haben keine Zettel.
„Was ist Poesie für euch?“, fragt er erneut und der Widerstand wird stärker.
Ich sinke auf meinem Stuhl zusammen.
Der Lehrer steht auf und bittet um Ruhe, aber auch ihm schlagen viele Neins entgegen. Er schickt einen Jungen los und dieser kommt kurz darauf mit einem Stapel kleiner Zettel wieder und verteilt diese.
I told you, that it will be a surprise. Diesen Satz kritzelt Miguel an die Tafel und grinst zu uns herüber. Ich frage mich, was passieren wird. Werden sich die Kinder auf das, was er mitbringt, einlassen? Werden sie zuhören? Vielleicht sogar mitmachen? Auf Spanisch schreibt er nun seine Frage an die Tafel, liest sie vor und gibt fünf Minuten Zeit, eine Antwort zu notieren. Ich schaue mich um und sehe kleine Persönlichkeiten, manche mit einem Lolli im Mund, andere eingehüllt in Mütze, Schal und Handschuhe (Obwohl es draußen so heiß ist!) und einige mit ihrem Stift in der Hand.
„Seid ihr fertig?“, fragt Miguel.
„Si“, schallt es durch den kleinen Raum.
Er geht durch die Klasse und sammelt die Zettel ein. Links hinten eine kurze Pause, da er zwischen zwei Zetteln auswählen soll. Miguel bleibt mit geöffneter Hand stehen und wartet, bis er beide vorgezeigt bekommt: einer leer, einer beschrieben. Er lächelt und bekommt den Beschriebenen in die Hand gedrückt. Es wird ruhiger.
Miguel setzt sich auf den Lehrertisch und erzählt, was Poesie für ihn selbst bedeutet. Leider verstehe ich nur Brocken, da mein Spanisch noch nicht so gut ist. Die Kinder lauschen und schauen ihn erwartungsvoll an.
„Poesie ist nicht kompliziert“, sagt er und eine Unterhaltung entsteht.
Nur drei Kinder scheinen mit ihren Gedanken woanders zu sein: Ein Mädchen malt, ein Junge schläft und ein anderer liest einen Zettel.
“Poesie ist Kreativität durch Worte.“ Miguel liest den ersten Zettel vor und schreibt den Satz an die Tafel.
Wieder entsteht ein Gespräch.
„Was ist Poesie?“, fragt er.
„¡La poesía es protesta!“ (Poesie ist Protest!)
Er liest nun nicht mehr von den Zetteln ab, sondern fängt die Meinungen der Kinder wie Bälle auf und wirft sie ihnen wieder zu.
„Salida del corazón.“ (Ausgang des Herzens.)
„Expresión de lo bueno y lo malo.“ (Ausdruck des Schönen und Schlechten.)
Ich bekomme Gänsehaut, versuche alles aufzusaugen, zu erfassen. Der Lehrer macht Fotos. Und Miguel beschreibt die schon übervolle Tafel und kommentiert die Aussagen der Kinder, woraufhin die nächste Antwort folgt.
„Agradable de escuchar.“ (Angenehm zu hören.)
„Sentimientos.“ (Gefühle.)
„Arte de decir lo que se siente.“ (Kunst zu sagen, was man fühlt.)
Gänsehaut…
Vor uns steht der Lehrer und spricht auf Spanisch mit uns. Wenn ich es richtig verstehe, möchte er uns fotografieren, da diese Schulstunde publiziert werden soll, und ich soll weiterschreiben. Ich nicke und er knipst.
„Entrega mucho a las personas: paz, amor, revolución, alegría.“ (Gibt den Menschen viel: Friede, Liebe, Revolution, Freude.)
„Transmite lo que uno quiere.“ (Weitergeben, was man will.)
Miguel schaut den Jungen an, der nicht mehr schläft. Er schüttelt den Kopf. Ein anderer Junge läuft den Gang entlang und wird unsanft von einem weiteren festgehalten. Ein vorwurfsvoller Blick, ganz kurz …
Unruhe entsteht, wahrscheinlich ist gleich Pause.
Aber Miguel besteht auf ein paar Minuten mehr und ist erfolgreich. Die Kinder beruhigen sich und weitere Antworten auf seine Fragen folgen. Jetzt sogar von den Rebellen von hinten links.
„Porque no me gusta.“ (Weil ich sie nicht mag.)
„Welche Poesie magst du nicht?“
„Keine!“
„Ich mag die vom Krieg“, sagt ein anderer von hinten links. Krieg sei dazu da, dass ein Land mehr Fläche gewinne. Und er sei stolz auf Chile, da es von Bolivien und Peru Flächen gewonnen habe.
Entschuldigend greift der Lehrer ein, von diesem Jungen habe er so etwas kommen sehen.
Aber Miguel sagt, auch dies sei im Moment die Poesie dieses Jungen, sein Fühlen, seine Gedanken. Unterstützt in seiner Meinung wird der Junge aber nicht.
Zum Abschluss liest Miguel eines seiner Gedichte vor und kommentiert es. Die Kinder reagieren auf das, was er sagt, und während die anderen Klassen schon draußen sind, klatschen sie noch.
“Wir sind die Poeten von morgen!“, sagt ein Mädchen aus San Pedro.
Nach der Pause nimmt uns der gleiche Lehrer in eine vierte Klasse mit, in der die Kinder wohl zwischen 9 und 12 Jahre alt sind. Die Wände sind gelb, an einer hängt eine Karte von Chile, eine selbstgemachte dreidimensionale Karte der 7. Region Chiles und drei Fotos des Inneren einer Kirche. Die Vorhänge an den Fenstern sind offen, da die Sonne auf der anderen Seite steht.
Es ist viel ruhiger als in der Klasse zuvor. Ich kann keine abwehrende Haltung beobachten, aber viel Neugier. Miguel wirkt entspannter und erzählt von Poesie. Die Kinder lauschen und antworten zurückhaltend. Ob sie sich vom tosenden Applaus haben irritieren lassen? Ob es am Alter liegt? Oder wurde bei ihnen die Spannung von den anderen in der Pause geweckt?
„Was ist Poesie für euch?“, fragt er und Zettel und Stifte liegen bereit.
Konzentriert schreiben die Kinder los.
Fünf Minuten.
Miguel kommt herüber und hockt sich vor uns. „Dies wird ganz anders“, flüstert er. „Wenn schon die letzte Klasse noch kaum etwas über Poesie gehört hatte, sind diese Kinder hier völlig unbefleckt.“ Er verrät uns, dass er versuchen will, ein Gedicht mit ihnen zu schreiben.
Ich sitze auf drei Büchern auf dem Boden und kann meine Aufregung kaum zügeln, so gespannt bin ich, was passieren wird. Von diesen jungen Menschen strahlt eine so natürliche Herzlichkeit aus, obwohl sie sich in einer für sie ungewohnten Situation befinden. Offen zeigen sie sich ihre Zuneigung, lehnen die Stirn an eine andere, während die Augen über die Zettel huschen, lachen sich nach dem Lesen an.
„Alle Meinungen über Poesie sind für mich gleichbedeutend“, sagt Miguel. „Sie können nicht gewertet werden.“ Dann beginnt er, die Zettel vorzulesen und schreibt an die Tafel:
„Aprender.“ (Lernen.)
„Expresión artística.“ (Künstlerischer Ausdruck.)
„Lindo.“ (Schön.)
„Palabra.“ (Wort.)
„Sentimientos.“ (Gefühle.)
„Comunicación.“ (Kommunikation.)
„Útil.“ (Hilfsmittel.)
„Die Schere ist ein Hilfsmittel“, sagt Miguel. „Für was?“
„Zum Schneiden.“
„Poesie ist auch ein Hilfsmittel. Für was?“
„Für Kommunikation. Um einander zu zeigen, was man denkt und fühlt.“
Ein Lachen geht durch die Klasse.
Ein 9-jähriger Junge mit Brille ruft: “La poesía es más grande que un beso.“ (Poesie ist größer als ein Kuss.)
Ein Mädchen fragt Miguel, ob er eines seiner Gedichte vorliest.
„Später gern. Jetzt möchte ich wissen: Hatte jemand von euch schon einmal großen Hunger? Oder kennt ihr jemanden, dem es so ging?“
Die halbe Klasse hebt die Hand.
Ein Zucken durchstreift meine Brust.
„Wie geht es einem Kind in so einer Situation?“, fragt Miguel und legt sich die Hand auf den Bauch. „Was fühlt und denkt es? Könnt ihr darüber ein Gedicht schreiben?“ Er setzt sich auf den Boden, zieht die Beine an und schlingt die Arme um die Knie.
„Versucht Worte zu finden, die aus dem Herzen kommen. Aber kopiert sie nicht vom Nachbarn, denn jeder hat ein eigenes einzigartiges Herz.“
Die Kinder schreiben.
Miguel geht zum einen und zum anderen, unterstützt sie, wenn sie stocken. Der Lehrer fotografiert. Wir unterhalten uns mit einem Mädchen und mit dem Jungen mit Brille.
Als Miguel sein Gedicht einsammelt, wirft er einen Blick darauf und schenkt ihm ein Lächeln.
„Welches der Gedichte in meiner Hand ist gleich einem anderen?“, fragt er.
„Keines!“
„Ihr habt recht. Wenn ich keinen Namen nenne, darf ich sie dann vorlesen?“
„Si!“
Ein zierlicher Junge wird kurz vom Lehrer zurechtgewiesen. Kurz darauf streicht er ihm über den Kopf und flüstert: „Was gerade gesagt wird, ist interessant.“
„Help me to change the world“, liest Miguel vor.
Gänsehaut.
Er zeigt auf die Aussagen zur Poesie an der Tafel und jedes Mal, wenn er ein Gedicht vorgelesen hat, fragt er, welche davon auf dieses zutreffen. Voller Begeisterung durchfluten die Antworten das Zimmer.
Am Ende der Stunde liest er ein eigenes Gedicht vor, kommentiert es und stellt Fragen. Die Konzentration lässt langsam nach, Blicke senken sich, murmeln, schreiben, Faszination. Trotzdem.
Ein Mädchen klatscht und stoppt beschämt.
Miguel greift es auf und wandelt es in ein Lob an alle um und für die schönen Worte.
Lachend klatscht nun die ganze Klasse.
Vielen Dank fürs Teilen der Gänsehautaugenblicke! Spannend, wie Poesie nahegebracht wird und wie Gedichte entstehen.
Sehr gern, danke fürs Lesen und deinen Kommentar!